Endlich hat das Ballett Basel mit MARCO GOECKE wieder einen wirklich interessanten Ballettdirektor und Hauschoreographen und bereits die erste Produktion zur Eröffnung dieser neuen Ära macht grosse Lust auf viele weitere spannende Tanzabende am Basler Haus…
Goecke, von dem bereits auch einiges in Zürich zu sehen war (etwa („Nijinski„, „Almost Blue“ oder „Petruschka“) und dessen ganz eigene Tanzsprache ich immer wieder wunderbar finde, eröffnet also sein Wirken am Basler Haus mit „Der Liebhaber“ nach dem Roman von Marguerite Duras, der bereits 1984 erschienen ist (und von Jean-Jacques Annaud 1991 verfilmt wurde). Die Produktion ist nicht neu und hatte ihre Uraufführung bereits 2021 am Staatsballett Hannover. Wie beim Roman (der mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet wurde und wohl das erfolgreichste Werk von Duras ist) hat auch diese choreographische Umsetzung keine stringende Handlungsabfolge, sondern ist eine Collage aus Erinnerungsfragmenten, die Duras mehr als 50 Jahre nach den Geschehnissen aufschrieb. Die Geschichte spielt in der französischen Kolonie Indochina (dem heutigen Vietnam) in den 30er Jahren und spannt den Bogen von der ersten Begegnung des französischen, aber in Südostasien aufgewachsenen fünfzehnjährigen Mädchens mit dem 12 Jahre älteren Chinesen, deren (sexueller) unerhörter Amour Fou bis hin zur Abreise des Mädchens zurück nach Frankreich und einem letzten Telefonat mit dem Liebesgeständnis des Liebhabers nach vielen Jahren. In den 75 Minuten erzeugt Goecke mit seinem Ensemble einen Sog, dem man sich nicht entziehen kann, erschafft eindrucksvolle Bilder und Stimmungen (grossartiges Lichtdesign von UDO HABERLAND, Bühne/Kostüm: MICHAELA SPRINGER/MARVIN OTT) und entlässt einen dann nach einem bewegenden Schluss mit den Originalzitaten des Romans in deutscher Übersetzung in die Nacht. Und alles ist vorhanden: die wohl ziemlich verkorkste Familie des Mädchens, aber auch des Sohns wohlhabender Chinesen und sogar ein Zusammentreffen sehen wir, dokumentiert durch Fotoblitze und schon ist dieser kurz auflodernde Moment der Normalität auch wieder vorbei in dieser sonst eher sehr dunkel und düster gehaltenen Szenerie, grossartig auch wenn die Limousine des Chinesen in der Ferne durch die Dunkelheit die Bühne überquert und immer wieder auch Rauchschwaden, Nebel, Kreidestaub, dezent eingesetzt, aber wirkungsvolle Stimmungen erzeugend. Marco Goecke schafft es gleich zu Beginn, dem Publikum diese Exotik zu vermitteln, lässt uns eintauchen in diese andere Welt am Mekong. Nachhaltig hat man dann sehr lange immer noch die sehr starke Musikauswahl – Maurice Ravel, Lili Boulanger, Zizi Jeanmaire, Frédéric Chopin, Claude Debussy, Unsuk Chin und vor allem zu Beginn diese wundervollen alten, historischen Aufnahmen vietnamesischer Sänger:innen – im Ohr. Was immer wieder sehr beeindruckt, sind diese schnellen, oftmals fast schon fiebrig wirkenden Bewegungsabläufe mit den für Goecke so typischen schnellen Händen und Zuckungen des ganzen Körpers, die trotz ihrer Heftigkeit oftmals eine tiefe Ruhe und Sinnlichkeit ausstrahlen und genau das macht auch die ganze eigene Ästhetik seiner Arbeiten aus. Das mag man oder man mag es nicht, dazwischen gibt es nicht viel und es ist bewundernswert, wie harmonisch und präzise all diese choreografierten Momente in diesem neuen Ensemble bereits wirken, als würden sie schon seit langer Zeit zusammen tanzen. Die Besetzung der von mir besuchten Vorstellung fand ich ganz wunderbar: LISA VAN CAUWENBERGH ist ein zerbrechliches, zartes Mädchen und doch spürt man ihre Stärke und ihr Durchsetzungsvermögen – sie weiss, was sie will und ist zusammen mit dem Liebhaber von CHENG-AN WU eine absolut gelungene Paarung, auch die anderen Rollen überzeugen mich: GIADA ZANOTTI (Mutter), JAMAL UHLMANN (älterer Bruder), ANTHONY RAMIANDRISOA (jüngerer Bruder), LYDIA CARUSO (Verrückte), FEIZA BESSARD (Helene), FLORIS PUTS/ELLIANA MANNELLA (Vater/Mutter des Liebhabers), CARLO WIEDEN DOBÓN (Duras) und das ganze Ensemble (EVA BLUNNO, SANDRA BOURDAIS, ANA PAULA CAMARGO, MICHELANGELO CHELUCCI, FILIPPO FERRARI, DAYNE FLORENCE, PARKER GAMBLE, CHISATO IDE, CARLOS KERR JR., RACHELLE ANAIS SCOTT, VERÓNICE SEGOVIA, LOUIS STEINMETZ, MARIANA VIEIRA (als Gast), NIKITA ZDRAVKIVIC, JULIE L. BJELKE (Erasmus).

Und so wie auch der Roman viele Leerstellen hat und Fragen offen lässt, geht es mir auch in diesem Werk von Marco Goecke, diese Leere auf der Bühne, die ungeklärten Ereignisse in der Handlung, das spiegelt – wenn ich jetzt nochmals in der Romanausgabe blättere – schon ziemlich den Inhalt von „Der Liebhaber“ wieder, diese Sehnsucht nach tiefen Gefühlen über einen derartig langen Zeitraum der Trennung und dann zuletzt noch dieses Telefonat und die abschliessenden Sätze aus dem Roman: „Dann wusste er nicht mehr, was er sagen sollte. Und dann sagte er es. Er sagte ihr, dass es wie früher sei, dass er sie immer noch liebe, dass er nie aufhören werde sie zu lieben, dass er sie lieben werde, bis zu seinem Tod„, bevor sich dann der Vorhang schliesst. Das ist ganz wunderbar. Zuletzt also noch diese Liebeserklärung, nicht nur an das Mädchen, sondern zeitgleich eben auch an die Autorin Marguerite Duras. Sehr bewegend und wahrhaftig. Bravi!
Zuletzt besuchte Ballett/Tanz-Produktionen:
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Oiseaux Rebelles: Dani Rowe/Mats Ek – Zürich Ballett 31.10.2025
CCN Aterballetto/Marcos Morau: Notte Morricone – Theater Winterthur 02.10.2025
Countertime: MacMillan/Marston/Arias – Ballett Zürich 27.06.2025
Autographs: Pite/McGregor/Forsythe – Ballett Zürich 06.06.2025
Seeing Within Sights/TanzLuzern – Luzerner Theater 18.05.2025
Tanzkompanie St. Gallen: ORESTEIA Premiere – Theater St. Gallen 17.04.2025
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