Nach den vielen sommerlichen Wochen ohne Theaterluft bin ich doch etwas hin- und hergerissen zwischen dem „grossen“ Aufwand bis zur Landiwiese zu fahren, gleichzeitig spüre ich diese prickelnde Aufregung, dass es „wieder losgeht“. Dieses Jahr hat mich am „Speki“ aber tatsächlich nur eine Produktion wirklich interessiert: WILLIAM KENTRIDGE & HANDSPRING PUPPET COMPANY aus Südafrika mit einem ganz eigenen afrikanischen „Faust“, der ursprünglich 1995 Premiere hatte und nun für eine Festival-Tour offensichtlich wieder reaktiviert und bearbeitet wurde…
Ist das für mich nun das Ende des Festivalsommers, hier am Theaterspektakel mit dem Besuch von „Faustus in Africa!“ oder etwa schon der Beginn der neuen Saison? Ich muss nichts einordnen, ich lasse es so stehen, denn diesen Sommer – lässt man „Kinky Boots“ in Dublin und „Fiddler on the Roof“ in Belfast beiseite – war ich quasi wirklich OFF, kein Bayreuth, kein Lucerne Festival, nichts auf einer Bühne oder in einem Konzertsaal, zwar schon viel Kultur, aber zumeist einfach dahintreiben lassen, auch schön. Und jetzt fahre ich also slowly diese Leidenschaft wieder hoch und das zum Einstieg mit einem Meilenstein der deutschen Literaturgeschichte, adaptiert und integriert in die afrikanische Kolonialgeschichte, böse Zungen würden dies heutzutage kulturell angeeignet nennen. Um Aneignung geht es dann auch, Kolonialismus auf dem afrikanischen Kontinent, Geschichtsbewältigung, Restitution von Kulturgütern, es geht um diese bleibende und immerfort sich wohl nie schliessende Wunde, zugefügt von den Kolonialherren. Also aktuell wie nie. Also der „Faust“-Mythos, das allseits Böse gegen das Gute, die Grundidee der meisten Stoffe, von Marlowe bis Goethe und jetzt nun also mit einer zugegeben kraftvollen kolonialen Metapher, einem interessanten Text (ROBERT DAVID MACDONALD mit vielen Originalzitaten aus dem Goethe’schen Faust, die natürlich nicht fehlen dürfen, auf die wohl jeder wartet und die in dieser Produktion grossartig rezitiert und graphisch/filmisch umgesetzt sind) mit fantastischem Puppenspiel, toller Musik, Videos, Zeichnungen, Schattenspielen – eben alles im typischen WILLIAM KENTRIDGE-Look und vor allem grossartigen Schauspieler:innen und Puppenspieler:innen (EBEN GENIS, ATANDWA KANI, MONGI MTHOMBENI, ASANDA RILITYANA, BUHLE STEFANE, JENNIFER STEYN und dem überragenden WESSEL PRETORIUS als Mephisto), die es verstehen, diesen Text zu deklamieren, wie man es in Zürich schon lange nicht mehr gehört hat, denn im Schauspielhaus wurde vor allem in den Jahren der Intendanz von Nicolas Steman und Benjamin von Blomberg nur akustisch verstärkt genuschelt und gewispert und vor allem in Jogginghosen „performt“, aber sicherlich keine Texte deklamiert und diese zelebriert. Das war das wirklich Wunderbare an dieser Produktion, ansonsten kann man sich natürlich fragen – den „Faust“ nach Afrika transportieren, muss das sein, ja kann man machen, funktioniert, sehr gut und bis zu Auerbachs Keller kann ich dem Geschehen auch folgen, dann verliert es sich für mich und ich folge den vielen Assoziationen von afrikanischen Diktatoren (Bokassa, Idi Amin, Gaddafi etc.) und Machtergreifungen, fühle mich durch diese weibliche Puppe namens Helena (von Troja) irgendwie an griechische Mythologie und vor allem visuell an Evita Perron erinnert und finde zum Stück zurück bei der gefühlt Stunden später auftauchenden Walpurgisnacht (die dann aber relativ kurz und schnell abgespielt ist…). Es gibt viele wunderbare Momente in dieser Produktion, alleine die animierten Kohlezeichnungen von Kentridge sind absolut sehenswert, köstlich die immer wieder auftauchende und wohlzitierte Goethe-Büste, die natürlich niemals von den Einschüssen der Grosswildjäger getroffen wird oder das famose Puppenspiel, überhaupt diese Puppen! – sie sind grossartig, lebendig, lebensnah, sowohl die Menschen, als auch die Tiere (kein Wunder, wurde die Handspring Puppet Company für „War Horse“ mehrfach ausgezeichnet für ihren Puppenbau…). Und wie zeitlos diese mittlerweile 30 Jahre alte Produktion doch ist, auch wenn man heutzutage dieses Thema wohl etwas anders aufbereiten und zeigen würde, so hat es von seiner Aktualität und Brisanz relativ wenig eingebüsst und ist sehr gut gealtert (oder/und neu bearbeitet). Die Sitze in der Werft sind wie immer unbequem, es ist (wie immer) heiss in diesem Raum, ich habe meinen Fächer vergessen und ich bin froh, als nach gut 90 Minuten das Stück sich dem Ende zu neigt, wir einen irgendwie bekannten Epilog hören, dies alles in teils witzigen Übersetzungen, aber vor allem und das muss man immer wieder betonen: grossartig rezitierten Texten (englisch mit deutscher Übertitelung). Ich bin froh, bleibt die sonst in der Schweiz obligatorische und absolut inflationäre Standing-Ovation aus, denn ich bin erschöpft, aber einigermassen zufrieden. Und für mich ist diese Produktion eine interessante Parallele und Ergänzung zum gerade gelesenen neuen Roman von Karl Ove Knausgård mit ebenfalls faust’schem Thema – “ Die Schule der Nacht“. Ein gutes Ende des theaterlosen Sommers und ein guter Einstieg in die neue Saison 2025/26, die ich mit einer „Elektra“ am Theater St. Gallen kommende Woche „so richtig“ beginnen werde – hurra, es geht wieder los!
Zuletzt besuchte Schauspielproduktionen:
Romeo und Julia – Schauspielhaus Zürich 01.05.2025
König Lear – Schauspielhaus Zürich 05.01.2025
König Lear – Schauspielhaus Zürich 17.11.2024
Maria Stuart und Elisabeth – Thalia Theater Hamburg/Theater Winterthur 04.10.2024
Liebe, einfach ausserirdisch – Schauspielhaus Zürich 23.09.2024
Frau Yamamoto ist noch da – Schauspielhaus Zürich 20.09.2024
Der Theatermacher – Berliner Ensemble/Theater Winterthur 01.06.2024
Faust I & II – Schauspielhaus Zürich 24.03.2024
Orestie – Luzerner Theater 23.09.2023