La Traviata – Grand Théâtre de Genève 22.06.2025

KARIN HENKEL – bestens bekannt für ihre klug durchdachten und für meinen Geschmack brillanten Schauspiel-Inszenierungen mit vielen Auszeichnungen und mehrfachen Einladungen ihrer Arbeiten ans Berliner Theatertreffen – inszeniert auch Oper. Aktuell zu sehen: ihre ganz eigene Lesart von Verdis „La Traviata“ am Grand Théâtre de Genève…

Manchmal ist es einfach mühsam und für den Zuschauer anstrengend, wenn die Regie eine Produktion mit symbolhaften Bildern und Handlungen überfrachtet und alles, wirklich alles (über-) interpretiert und uns als Zuschauer keinen Raum lässt, selbst noch etwas Eigenes zu sehen oder zu hören. Dann schliesst sich zuletzt der Vorhang, man ist absolut erschöpft und komplett erschlagen, auch, weil es draussen am Sonntagnachmittag 35 Grad hat und die ganze Stadt Genf schwitzt und direkt vor dem Haus – crossover quasi – die Bässe wummern – es ist „Fête de la musique 2025“ in der Stadt und am Vorabend wurde diese Traviata-Produktion open air für alle live in den gegenüberliegenden Parc de Bastion übertragen. Der Vorhang ist zu und man fragt sich – was war das jetzt? Karin Henkel hat Verdis „La Traviata“ dekonstruiert und sämtliche Emotionen, jeglichen Pathos entfernt. Was bleibt, sind einige offene Fragen, aber auch neue Erkenntnisse, es ist eine knallharte und auf Fakten basierende Analyse eines Lebens – die Hauptfigur selbst – Violetta Valéry – wird in gleich vier verschiedene Figuren, Sichtweisen, Darstellungsformen gesplittet: eine kindliche Version, Violetta als Tanzdouble (SABINE MOLENAAR), ein Gesangsdouble – als kranke Violetta – (MARTINA RUSSOMANNO) und letztendlich RUZAN MANTASHYAN als Violetta Valéry. Es ist schon ziemlich verkopftes deutsches Regietheater, was wir zu sehen bekommen – einige Ideen sind wirklich grossartig, andere Einfälle entlocken mir nur ein leichtes Stöhnen und/oder nach oben verdrehte Augen, etwa wenn gleich zu Beginn der kindlichen Violetta ein Schild mit der Aufschrift „A vendre“ (zu verkaufen) umgehängt wird, wir immer wieder den grossen Porträts Violettas begegnen (eines davon wird von der kindlichen Version Violettas mit Blut beschmiert) – kombiniert mit weiteren grossformatigen Tierporträts, der Vater Germont fesselt und knebelt seinen Sohn während deren Begegnung (aha – keine Kommunikation möglich) und giesst später ebenfalls Blut über das Violetta-Tanzdouble, das zwischenzeitlich auch mal einer Kreuzigung ähnlich im Bühnenraum schwebt. Ok, kann man alles machen, braucht es aber nicht unbedingt. Was jedoch grossartig ist, hervorragend funktioniert und eine komplette neue Sichtweise eröffnet, ist das Fest bei Flora Bervoix (bezaubernd wie immer: YULIIA ZASIMOVA) – als Boxkampf inszeniert, zwei Rivalen umkämpfen Violetta im Ring, treten gegeneinander an, der Chor, die Festgemeinschaft sind Zuschauer dieses Ereignisse, ergreifen Partei – so habe ich diese Musik – der Boxkampf ist hervorragend auf die Musik choreografiert – noch nie erlebt, empfunden, gefühlt, das ist ein Highlight dieser Produktion! Während die Violettas und alle weiteren Protagonisten in eher schlicht gehaltener, dunkler Alltagskleidung unterwegs sind, gibt es für den Chor eine knallbunte Unisex-Abendgarderobe (Kostüme: TERESA VERGHO), die mit ihren grossen stilisierten 80er-Jahre-Schulterpolstern wohl Geld und Dekadenz ausstrahlen soll, jedoch absolut hässlich ist, einzig im monochromatischen Licht wirkt das Kostümbild herrlich surreal. Im multifunktionalen Einheitsraum von ALEKSANDAR DENIĆ – einer Mischung aus altem Schwimmbad, Produktionshalle oder gar Schlachthof mit teilweise gefliesten Wänden (ja, hier wird blutig ein ganzes Leben seziert….)? – finden dann auch sämtliche Akte statt, allerdings dekonstruiert, zerstückelt, neu zusammengesetzt, wir beginnen mit Violettas Tod, dem Ende des Werkes und blicken dann gemeinsam mit ihr auf dieses Leben zurück. Das macht Sinn, diese Rückschau, einer Mischung aus Entbehrung, grosser Liebe, Demütigung, einem von Männern dominiertem Frauenleben. Und dann in all dieser nüchternen Analyse gibt es für mich doch noch einen bewegenden Moment, der sich stark einbrennt und haften bleibt – Giorgio Germonts Brief an Violetta wird von deren Version als Kind an der Rampe stehend gelesen, das ist wunderbar und entgegen dem Regiekonzept absolut emotional und sehr berührend. PAOLO CARIGNANIs Dirigat ist analytisch, kühl, absolut unemotional und von daher passend zum Bühnengeschehen, das Orchester klingt manchmal etwas ausgedünnt, fast kammermusikalisch, aber das ist „La Traviata“ ja letztendlich auch. Manchmal habe ich das Gefühl, dass die Musik aus dem Graben wie der Soundtrack zum Bühnengeschehen komponiert wurde, so sehr nimmt sie sich zurück, so sehr dominiert die Regie. ENEA SCALAs (Alfredo) nasaler und sehr schlanker Tenor ist Geschmacksache, wunderbar hingegen der Bariton von LUCA MICHELETTI als Giorgio Germont, allerdings viel zu jung besetzt, sieht er doch eher aus wie Alfredos Bruder und nicht wie dessen Vater.

Ruzan Mantashyan sowie Martina Russomanno sind absolut glaubwürdig in ihrem Spiel, facettenreich und beide mit wunderbaren Stimmen gesegnet, die Aufteilung der Partie funktioniert grossartig, wobei Mantashyan den weitaus grösseren Anteil übernimmt, Russomanno ihr in nichts nachsteht und natürlich gibt es auch in dieser Produktion musikalische Highlights, wie etwa Violettas Abschied vom Leben „Addio del passato“. An die tänzerische Doppelung mit Sabine Molenaar (die das auch choreographiert hat) muss man sich zunächst etwas gewöhnen, erinnern mich zu Beginn diese verrenkt choreographierten Momente ein wenig an die Exorzisten-Filme, aber auch das hat etwas, man spürt die Zerrissenheit und den Schmerz Violettas. Alle weiteren Rollen sind durchwegs sehr gut besetzt: EMANUEL TOMLJENOVIC (Gaston de Letorières), ELISE BÉDÈNES (Annina), RAPHAËL HARDMEYER (Le Marquis d’Obigny), MARK KURMANBAYEV (Le Docteur Grenvil) und DAVID IRELAND (Le Baron Douphol). Der CHŒUR DU GRAND THÉÂTRE DE GENÈVE wurde von MARK BIGGINS einstudiert und sang wie immer auf den Punkt – immer wieder eine Freude an diesem Haus diesen tollen Chor zu hören. Die Arbeiten Karin Henkels am Schauspielhaus Zürich (u.a. „Elektra“, „Amphytrion und sein Doppelgänger“, „Die zehn Gebote“, „Beute Frauen Krieg“ oder „Die grosse Gereiztheit“) fand ich durchwegs grossartig, bei dieser Arbeit in Genf bin ich noch unschlüssig, was ich davon halten soll – eine etwas andere und interessante Lesart des Werkes ist es allemal. „La Traviata“ war die letzte Produktion der Saison am Grand Théâtre de Genève, jedoch hat das Haus bereits einen äusserst spannenden Spielplan für die kommende Saison 2025/2026 vorgelegt, es ist Aviel Cahns letzte Spielzeit, bevor er als Intendant an die Deutsche Oper Berlin wechselt.

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