Tanzkompanie St. Gallen: Oresteia – Premiere Theater St. Gallen 17.04.2025

Grosses hat man sich vorgenommen in St. Gallen, eine spartenübergreifende Beschäftigung mit der Orestie – Tanz, Oper und Schauspiel arbeiten sich an der griechischen Mythologie ab. Neben dem Tanzstück „Oresteia“ von Frank Fannar Pedersen und Javier Rodriguez Cobos, gibt es gegen Ende der Spielzeit noch eine Neuinszenierung von Strauss‘ „Elektra“ (deren wenige Spieltermine leider für mich nicht passen, sehr schade, denn „Elektra“ in der Regie von John Dew in St. Gallen war für mich 1993 die erste Produktion, die ich an einem Schweizer Haus gesehen habe, ich hoffe sehr auf eine WA in der kommenden Saison….) und am 24. Mai ein Gastspiel von Milo Raus Produktion „Medea’s Children“ vom NTGent. Den Auftakt bildet nun also „Oresteia“ mit der Tanzkompanie, für die es sich immer nach St. Gallen zu fahren lohnt…

Der Abend beginnt mit einer projizierten Videoinstallation von RUBÉN DARIO BAÑOL HERRERA zu einem sehr interessanten Cover (Eric Whitacre) von Depeche Modes „Enjoy the Silence“ und ja, ich lasse mich darauf ein und geniesse die Stille und die erste Story des Abends die mir in Scherenschnittform präsentiert wird – Iphigenie wird von ihrem Vater Agamemnon geopfert, damit die Winde für seine Expedition nach Troja wehen. Die Atriden-Tetralogie hat mich schon immer fasziniert, vor allem natürlich diese Abfolge von Rache, Mord, Vergeltung, dieser unendliche Kreislauf, diese Spirale an Gewalt, die fast nicht zu durchbrechen scheint, Archaik, griechische Mythologie. Das ist das Thema des Abends, das sind Themen, die auch heute noch jeden betreffen und je nach Kultur immer noch Alltag sind oder bei uns im Kleinen in der Familie gelebt und ausgetragen werden. Die Choreographen FRANK FANNAR PEDERSEN und JAVIER RODRIGUEZ COBOS versuchen diese Stoffe in die Gegenwart zu übertragen und diese komplexen Fragen in Form von ihren Choreographien in die heutige Zeit zu transportieren. Eine Zeitreise also. Das Ensemble ersteht aus Ruinen, aus Versatzstücken von Treppen und Podesten, wühlt und gräbt sich einen Weg in die heutige Zeit, es entstehen immer neue dynamische Räume, gemäss Programmheft auch eine Metapher für gesellschaftliche Positionen und Ambitionen, das ist ein schönes Bild, denn immer wieder stellt sich die Frage – wer steht oben? Wer fällt als Nächstes? Wer kommt an die Macht? Eine weiteres Mosaikstück, dass mir in Erinnerung bleibt von dieser Produktion ist das bekannte griechische Lied „Ta Paidia tou Peiraia“, was mich doch sehr an meine Kindheit erinnert (allerdings eher in der Version von Dalida….). Hier singt es ARIADNI TOUMPEKI aus dem Tanzensemble, während das Ensemble sich um sie versammelt und sie in den Sirtaki-Kreis einbindet, der jedoch immer wieder zu einer brutalen Schlägerei ausartet, so kann es gehen, alles hat eben immer zwei Seiten, hier wohl zu viel Ouzo. Im Stück steht dieser Song sinnbildlich für die „Resilienz einer Nachkriegsgesellschaft, die trotz beträchtlicher Entbehrungen Mut schöpft und Hoffnung aufscheinen sieht“. Für meinen Geschmack war die Nummer sehr in die Länge gezogen, so wie vieles an diesem Abend etwas straffer hätte sein können oder sind wir wirklich nur noch auf schnelle Schnitte und rasche Wechsel programmiert, das frage ich mich mehrmals während dieser Premierenvorstellung. Sind wir nicht mehr in der Lage uns Zeit zu nehmen und Dinge einfach geschehen zu lassen? Egal wie lange sie dauern. Wieso werden wir so schnell ungeduldig und warten auf den nächsten Input. Das war wohl nicht die Intention dieser Produktion, beschäftigt mich aber nachhaltig. Die immer wieder auftauchenden Videoprojektionen und die Musikauswahl bzw. die Kompositionen von ALEJANDRO DA ROCHA, der elektronische Sounds mit antiken Instrumenten und griechischer Folklore fusioniert sowie das grossartige Licht und die Bühne von LUKAS MARIAN sind ein grosser Bestandteil des Gesamteindrucks dieser neuen Produktion (nicht zu vergessen, die immer wieder typ-genau produzierten Kostüme von BREGJE VON BALEN – wundervoll die gehäkelten Masken, loved it!!!!!), die zwar tänzerisch auch Uptempo-Nummern beinhaltet, insgesamt jedoch eher ruhig, besinnlich, nachdenklich in Erinnerung bleibt und sich durch die Geschichte bewegt. Zuletzt landen wir bei der Entstehung der Demokratie, man entfernt sich von Mord und Totschlag, es wird abgestimmt, die Gesellschaft blickt nach vorne, verändert sich zum Positiven (auch wenn man das bei der aktuellen Weltlage durchaus wieder hinterfragen kann). Was bleibt also von diesen Myhen, was nehmen wir mit in unsere Zeit? Die Schönheit der antiken Statuen? Zuletzt eine Partnerarbeit im Sprühnebel, ein Pas de deux als Finale, ist das die Vergebung, die wir uns alle wünschen, ist das die Harmonie nach der wir alle Streben? Zwei schöne Menschen in athletischen Körpern, die sich bewegen? Ist dies das Ende der Gewaltspirale? Etwas nachdenklich und mit unbeantworteten Fragen zu diesem Abend, zur Weltlage bleibe ich zurück, eine Zugabe nach den Bows holt mich und den restlos begeisterten Saal in die Wirklichkeit, in unser heutiges Leben zurück. Und nach diesem bisher wohl nachdenklichsten Stück der Kompanie mit seinen vielen dunklen, ruhigen Elementen wird auf der in blutrot getauchtes Licht das Leben gefeiert. Und der nicht wirklich volle Saal (wo sind denn alle? In den Osterferien?) feiert die erneut grossartige Tanzkompanie St. Gallen und sein Kreativteam. Bravi EMMA BAS GONZÁLES, BAPTISTE BERRIN, GUANG-XUAN CHEN, ETHEL DESDAMES, MITCH HARVEY, SWANE KÜPPER, VENETIA LIM JIA YEE, ANDREA LIPPOLIS, LUIS MARTINEZ GEA, CHARMENE PANG, ADAMANTIA PAPAKYRIAKI, TOMMASO TERRIBILE, EMMA THESING, ARIADNI TOUMPEKI, IFIGENIA TOUMPEKI, ALEX WREIMAN und MINGHAO ZAO!!!!

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