Als ich vor gar nicht langer Zeit den wunderbaren kurzen Roman „Gentleman über Bord“ von Herbert Clyde Lewis las, wurde mir Jens Rehns Novelle „Nichts in Sicht“ ans Herz gelegt. Und tatsächlich weisen beide Texte sehr viele Parallelen auf und jeder begeistert auf seine ganz eigene Art und Weise. „Nichts in Sicht“ ist ein sehr wichtiges Buch und wie vor vielen Jahren Marcel Reich-Ranicki schrieb, ist er „Beides in einem – ein zeitgeschichtliches und ein künstlerisches Dokument“. Für mich ist es eine lesenswerte Entdeckung…
Ursula März bringt es in Ihrem Nachwort auf den Punkt: „Texte verändern sich nicht. Das Geschriebene bleibt das Geschriebene. Aber die Bilder und Assoziationen, die den Leser begleiten, ändern sich mit dem Wandel der Zeit und seinem Kontext“. Und so ist dieser Text auch heute immer noch hervorragend lesbar und nimmt mich mit auf eine ganz spezielle Reise. Und ich frage mich, was letztendlich für mich die Quintessenz von „Nichts in Sicht“ist? Es geht um die Einsamkeit, um die Verlorenheit eines einzelnen Menschen und seine Gedanken vor dem unaufschiebbaren Tod, weit draussen auf dem Meer, alleine im Schlauchboot, verfolgt von Erinnerungen und die allgegenwärtige Frage nach dem Sinn, nach Gott, nach der Wahrheit, nach der Essenz, warum wir leben, warum wir all dies erdulden (müssen). Aber es ist auch eine Antikriegs-Novelle. Eine Anklage gegen die alles zerstörenden Kriege und umso mehr ist dieser Text eben heutzutage immer noch sehr relevant und aktuell.
»Die Dünung war vollständig eingeschlafen. Die Sonne brannte auf die reglose See. Über dem Horizont lag leichter Dunst. Das Schlauchboot trieb nur unmerklich. Der Einarmige beobachtete unablässig die Kimm. Der Andere schlief. Es war nichts in Sicht.«So beginnt eines der beeindruckendsten Bücher über den Krieg und dessen letzte Konsequenz: das Sterben in großer Einsamkeit.Ein deutscher U-Boot-Matrose und ein amerikanischer Pilot treiben in einem Schlauchboot im Atlantik; der Amerikaner – schwer verwundet – stirbt am dritten Tag, der Deutsche ist am Verdursten: »Die See zeigt sich unbewegt und ohne Anteilnahme, wer auf ihr herumtreibt.«Ohne Sentimentalität oder Pathos beschreibt Jens Rehn Menschen in der extremsten Situation: dem Tod ausgeliefert, ohne jede Hoffnung, nichts in Sicht. (Schönling & Co. Verlag)
Interessant finde ich die Stilistik des Textes, ebenso die Namenssetzungen „Der Einarmige“, „Der Andere“ und natürlich „Der Allmächtige“ als die grosse Instanz schlechthin, mit der zuletzt die Zwiegespräche entstehen und das Leben verhandelt wird. Auch wenn der Text für meinen Geschmack zuweilen etwas langatmig gerät, nimmt er mich als Leser gefangen, macht diese Einsamkeit, diese Hoffnungslosigkeit, diese immer wieder auftauchende Verzweiflung spürbar, erfahrbar. Und natürlich reiht sich dieser Text ein in grosse weitere Romane, in denen Menschen unfreiwillig einer derartigen Situation ausgesetzt sind, sich mit sich selbst beschäftigen (müssen), das Leben in Frage stellen und eine Reihe von grundlegenden philosophischen Fragen aufwerfen. »Nichts in Sicht«, bei seinem Erscheinen von der Kritik hochgelobt und in viele Sprachen übersetzt, erschien zuletzt anlässlich des 100. Geburtstags von Jens Rehn in einer Neuausgabe mit einem Nachwort von Ursula März. Und doch fragt man sich, warum man weder von diesem Roman, noch von dem Autor viel gehört hat. Rehn wurde 1918 in Flensburg geboren, war im Zweiten Weltkrieg U-Boot – Offizier und wurde 1950 Redakteur beim RIAS Berlin, leitet dort ab 1958 die Literaturredaktion. Jens Rehn starb 1983 in Berlin.
„Nichts in Sicht“ von Jens Rehn, 2018 (erstmals 1954), Verlag Schöffling & Co., ISBN: 978 3 89561 149 0 (Werbung)
Zuletzt gelesen:
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Der Roman steht schon längere Zeit ungelesen im Regal, Zeit, ihn mal so langsam, aber sicher deutlicher ins Auge zu nehmen für eine künftige Lektüre. Danke für den Anstupser. Viele Grüße
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„Nichts in Sicht“ …
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