In diesem kleinen Bändchen, das bereits 1991 erschienen und nun auf Deutsch erhältlich ist, beschreibt Annie Ernaux bis ins kleinste Detail von der Obsession, von der alles verzehrenden Leidenschaft, von der Abhängigkeit zu einem Mann, zu einer Affäre, die ihr ganzes Leben auf den Kopf stellt und alles andere um sie herum nichtig erscheinen lässt…
Natürlich ist es das Alter Ego der Autorin, das erzählt und so wie sie ihr ganzes Leben, ihre Familie, ihre Abtreibung literarisch verarbeitet, erfahren wir nun also über diese Leidenschaft zu einem osteuropäischen Mann, der nicht genauer beschrieben wird, uns als Leserschaft nur als A. begegnet und noch dazu eher unsympathisch und absolut egoistisch erscheint. »Ab September letzten Jahres tat ich nichts anderes mehr, als auf einen Mann zu warten: dass er mich anrief und mich zu Hause besuchte.« Sie verlasst das Haus nicht mehr, sie fokussiert sich komplett auf diese Affäre, selbst den Staubsauger oder den Fön wagt sie nicht anzustellen, weil sie sonst eventuell das Telefonklingeln überhören könnte.
Das körperliche Leiden, die Angst des Wartens, die immer nur kurze Erleichterung des Liebemachens, die darauffolgende Lethargie und Müdigkeit, das erneute Verlangen, die kleinen Demütigungen und Erniedrigungen der Besessenheit und des Verlassenseins – mit ruhiger Selbstverständlichkeit berichtet Annie Ernaux von einer schmerzlich langen Episode ihres Lebens; wie sie sich immer heftiger in eine Affäre verstrickt, einem verheirateten osteuropäischen Geschäftsmann verfallen, der eine vage Ähnlichkeit mit Alain Delon hat, schnelle Autos und Alkohol mag und im Französischen keine »obszönen Ausdrücke kennt, oder er hatte einfach keine Lust, sie zu benutzen«.
Annie Ernaux beschreibt einen zweijährigen Schwebezustand, worin jedes Wort, jedes Ereignis und jede andere Person entweder eine dringliche Verbindung zu diesem Mann hat oder aber von ihr mit kalter Gleichgültigkeit beschieden wird. Zu einem Mann, der ihr fremder nicht sein könnte. (Suhrkamp Verlag)
Ich habe schon lange nicht mehr ein derart schnörkelloses, nüchternes Buch gelesen – was für eine Wohltat, was für ein literarischer Genuss. Eigentlich wollte ich meine persönliche Annie Ernaux – Lesereihe mit ihrem Roman „Die Jahre“ von 2008 beginnen, dann kam jedoch diese Neuerscheinung (von 1991) dazwischen, die mich thematisch brennend interessiert hat. Wer kennt diese Gefühle nicht, dass man sich komplett aufgibt für jemanden? Natürlich muss man sich fragen, was ist Leidenschaft, wo hört sie auf, wo beginnt eine ungesunde Abhängigkeit? Diese Fragen werden von Ernaux nicht beantwortet, aber interessant und sehr lesenswert reflektiert. Mein Einstieg in die literarische Welt von Annie Ernaux startet also mit einer wirklich lesenswerten Betrachtung, mit einem dünnen Bändchen zum Thema „Leidenschaft“. Sehr empfehlenswert. Ich freue mich auf weiteres Textmaterial von ihr.
„Eine Leidenschaft“ von Annie Ernaux, 2024 (erschienen 1991), Suhrkamp Verlag, ISBN: 978-3-518-22553-0 (Werbung)
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