Schon erstaunlich, dass am Theater St. Gallen die erste Premiere der neuen Saison 2024/25 ein Tanzstück ist und man damit fast schon ein Zeichen setzt – wie wichtig diese Sparte in der Gunst und in der Wahrnehmung des Hauses und des Publikums ist. Das ist gut so – denn einmal mehr lohnt sich für „LIMBO“ die Reise in die Ost-Schweiz. Immer wieder ist es eine grosse Freude dieses junge, frische und äusserst kreative Ensemble zu erleben (und schön ist es in der Spielstätte Lokremise sowieso)…
In der neusten Kreation von FRANK FANNAR PEDERSEN (gemeinsam mit dem spanischen Choreografen JAVIER RODRÍGUEZ COBOS) nimmt dieser die Zwischenwelt, einen Ort zwischen Himmel und Hölle – den Limbo (oder „Limbus“, umgangssprachlich auch Vorhölle) – ins Visier. Es geht also um einen Zustand „dazwischen“, man steckt irgendwo fest, kommt nicht weiter, weiss nicht, was als Nächstes kommt. Ein interessanter Zustand, den wohl jeder kennt. Die acht Tänzer:innen sind nach Blumen benannt und leben als rätselhafte Wesen in einer anderen Welt, in einem anderen Zustand, irgendwo dazwischen eben, in ihrem eigenem Limbo, jeder sucht nach einem für sich passenden (Aus)Weg. Ein Miteinander gelingt nicht immer, auch wenn sie gemeinsam in diesem Zustand, in dieser Blase, unter einem alles verbindenden Netz gefangen sind. Das Stück beginnt (und endet) mit einer instrumentalen Endlosschleife des Eagles-Klassikers „Hotel California“ und bereits bei der launigen Einführung im Rahmen des „Warm ups“ mit EMILY PAK (übrigens eine coole Session zum Mitmachen) erfährt man von der immer wieder sehr engagierten Tanzdramaturgin SELINA BEGHETTO, dass eine Zeile des Songs wohl signifikant ist für diesen (Geistes)Zustand: „You can check out any time you like, but you can never leave“. Und so sehen wir die Ensemblemitglieder, wie sie versuchen sich zu zu befreien, sich verheddern, eine Einheit sind und doch Individuen und für sich bleiben, jeder auf seinem eigenen, ganz persönlichen Weg. Sie werden mit anderen, aber auch mit sich selbst konfrontiert, sie gehen eigene Wege, werden stellenweise doch (von einer höheren Macht?) geleitet (grossartig während einer Sequenz am Mikrophon: ARIADNI TOUMPEKI). Wir sehen eine interessante Mischung unterschiedlicher Emotionen und Energien: Aufbäumen, Resignieren, Loslassen und zu guter Letzt wohl auch dem Finden, dem Erreichen eines Zustandes persönlichen Friedens und so wie sie den Limbo betreten, so verlassen sie diesen Zustand wieder, alleine, jeder für sich, während sich die Eagles-Klänge leise hinausschleichen und die Tänzer:innen das eindunkelnde Auditorium in aller Stille zurücklassen. Das Finale ist wohl einer der schönsten Momente dieser Produktion und während dieser gut 60 Minuten dauernden Reise durch unterschiedliche Zustände und Emotionen hängt wohl jeder im Saal seinen eigenen Gedanken und Zwischenwelten nach. „Limbo“ ist ein interessantes, kleines und feines Piece und entstand in enger Zusammenarbeit mit den Tänzer:innen (Iris: EMMA BAS GONZÁLES, Daisy: ETHEL DESDAMES, Rose: ANDREA LIPPOLIS, Ivy: CHARMENE PANG, Margarita: ADAMANTIA PAPAKYRIAKI, Lily: ARIADNI TOUMPEKI, Lupin: ALEX WREIMAN, Lotus: MINGHAO ZHAO), dazu eine grossartige Musikauswahl von Daniel Muñoz „Artomático“ über Laurie Anderson, Greg Haines, dem Kronos Quartett bis eben hin zu „The Eagles“. Anders als bei „Matthäus 22:37-39 (Jo Strømgren)“ (ebenfalls in der Lokremise) oder „Fordlandia“ fehlt es bei „Limbo“ an einer gewissen Leichtigkeit und dem Quäntchen Humor, was die beiden vorhergehenden Stücke hatten, dafür besitzt „Limbo“ einen ganz eigenen Pathos und eine spezielle Sentimentalität, ist aber wohl auch dem Thema geschuldet und letztendlich interpretiert jeder für sich in dieses Stück, was er denn gerne darin sehen möchte. Das Netz ist jedenfalls ein absoluter Hingucker, die Kostüme ebenso (neben der Choreographie ist auch Bühne und Kostüm von Frank Fannar Pedersen verantwortet, das Licht stammt von LUKAS MARIAN). Und einmal mehr habe ich die Kompanie bzw. die acht besetzten Tänzer:innen des Ensembles als energiegeladen, frisch und äusserst kraftvoll erlebt, das Theater St. Gallen kann sich glücklich schätzen mit dieser jungen Kompanie, die mittlerweile eine große Fangemeinde haben dürfte – ein Besuch der Produktionen lohnt sich jedenfalls und man kann sich schon sehr auf den Doppelabend „MOVED“ im grossen Haus freuen mit Choreografien von Ohad Naharin und Alan Lucien Øyen. Ich oute mich als Fan dieser Tanzkompagnie, also – auf nach St. Gallen!
Zuletzt besuchte Ballett/Tanz-Produktionen:
Next Generation – Junior Ballett Zürich, Studiobühne Opernhaus Zürich Premiere 25.06.2024
Nijinski – Ballett Zürich 22.06.2024
Atonement (Cathy Marston) – Ballett Zürich 30.05.2024
New York City Ballet: Classic NYCB I – David H. Koch Theater New York 07.05.2024
KIdd Pivot: Assembly Hall – STEPS/Theater 11 Zürich 03.05.2024
Alan Lucien Øyen: Story, Story, Die – STEPS / Kurtheater Baden 24.04.2024
Tanzkompanie St. Gallen: Fordlandia – Theater St. Gallen Premiere 06.04.2024
Messa da Requiem/Ballett Zürich – Oper Zürich 28.03.2024
Matthäus 22:37-39 (Jo Strømgren/Tanzkompanie St. Gallen) – Lokremise St. Gallen 23.02.2024
Timekeepers: Tankard/November/Nijinskaja – Ballett Zürich 02.02.2024