Atonement/Ballett Zürich – Opernhaus Zürich 30.05.2024

Es braucht schon sehr viel Selbstbewusstsein und ein gutes Team, um einen internationalen Bestseller wie „Atonement“ (Abbitte) von IAN MCEWAN als grosses Handlungsballett auf die Bühne zu bringen. Jeder kennt den Roman, die Erwartungen sind entsprechend hoch. CATHY MARSTON – Direktorin des Ballett Zürich – hat sich dieser Aufgabe angenommen und (zusammen mit EDWARD KEMP) einen interessanten Abend kreiert, der sich zwar der Vorlage bedient, jedoch mit einem ganz eigenen Twist aufwartet…

Der Abend beginnt eher konventionell mit grossen Tableaus vor einem gemalten Prospekt mit englischen Ländereien, es plätschert für meine Begriffe etwas dahin, so dass ich mich frage, ob mich das in dieser Form wirklich interessiert und vom Hocker reissen wird, auch wenn es spannende choreographische Momente hat und das Ensemble ein sehr hohes Niveau an tänzerischem Können zeigt. Wir sehen ein Gartenfest in der Sommerfrische, auf dem Landsitz der Familie Tallis, gesellschaftliches Geplänkel, die Einführung der Charaktere: GIORGINA GIANI als Briony Tallis, DORES ANDRÉ als Cecilia Tallis, MAX CAUTHORN als Robbie Turner, SHELBY WILLIAMS als Brionys Mutter, PABLO OCTAVIÓ als Bruder von Briony (sowie MÉLANIE BOREL als Dienstmädchen Betty, DANIEL MULLIGAN als ein Hausgehilfe). Ins Auge stechen auch die beiden Cousins Brionys: LUCA MAGRI und PHILIPP RAUBER (beides Schüler der Tanz Akademie Zürich). Highlight in diesem ersten Teil ist für mich das Pas de deux von Cecilia und Robbie mit interessanten Hebungen im Bett und überbordender Leidenschaft, es wird nichts ausgespart, wir sehen auch die Vergewaltigung von Brionys Cousine Lola Quincey (GRETA CALZUOLA) durch einen ebenfalls anwesenden Gast (MLINDI KULASHE als Paul Marshall), bevor diese vermeintliche Idylle durch die Falschaussage Brionys in sich zusammenfällt und kurze Zeit später der zweite Weltkrieg ausbricht.

Durch eine bewusste Falschaussage bringt Briony Tallis, eine pubertierende, übereifrige Autorin im England der 1930er-Jahre, den nicht standesgemässen Liebhaber ihrer älteren Schwester ins Gefängnis und zerstört das Leben und die Liebe zweier Menschen. (Ballett Zürich)

„Atonement“ ist bereits in McEwans Romanvorlage weitaus mehr als eine tragische Liebesgeschichte vor zeitgeschichtlichem Hintergrund, er stellt die Frage nach Schuld und Sühne, nach Reue und der Schwierigkeit der Vergebung. In Cathy Marstens Version nutzt Briony – in späteren Jahren erfolgreiche Choreographin – den Tanz, um mit ihrer Schuld umzugehen und für sich und für alle Beteiligten eine Version zu erzählen, mit der man, mit der alle Beteiligten, mit der vor allem sie leben kann. Die Familie löst sich kriegsbedingt auf, wir sehen grosse Ensembles mit Soldaten, Krankenschwestern (mit interessanter Bettlaken-Choreographie), es herrscht Krieg, die Stimmung und die Bewegungen sind unemotional, militärisch, zackig, kantig, hart. Der Vorhang fällt. Wir sind das Publikum an dieser Ballettpremiere Brionys, in dem sie ihre Geschichte, ihre Sichtweise auf den „Vorfall“ erzählt. Wir applaudieren, doch die Geschichte ist noch nicht zu Ende.

Eine Vergebung wird sie nie erfahren, denn es ist nicht mehr möglich, Abbitte zu leisten. Ronnie starb verletzt an Blutvergiftung am Strand von Dunkerque, Cecilia kam in London bei einem Bombenangriff ums Leben, die beiden haben sich nie mehr getroffen. Einzig dieses Ballett Brionys ermöglicht all diesen unglücklichen Menschen ein Quasi-Happy-End (analog dem Roman von Briony im Originaltext McEwans). All das erfahren wir aus dem Off in einem Interview mit Briony zur Premiere – mit der wunderbaren KATE STRONG, die Old-Briony (getanzt von ELENA VOSTROTINA) ihre Stimme leiht. Hier hätte man sich stellenweise etwas mehr Zurückhaltung vom Orchester gewünscht (am Pult der PHILHARMONIA ZÜRICH: JONATHAN LO), einige der Passagen waren akustisch eher schwer verständlich. Grossartig im zweiten Teil ist der Rundvorhang mit seiner wechselnden Landschaft von der lieblichen Grafschaft hin zum Strand von Dunkerque (Bühnenbild: MICHAEL LEVINE). Die zeitlich entsprechend verorteten Kostüme sind von BREGJE VAN BALEN, die früher selbst Tänzerin war und heute für viele bekannte Choreograph:innen als Kostümbildnerin tätig ist. Marstons Choreographien sind vielseitig, alle Figuren haben eine ganz eigene individuelle Tanzsprache, grossartig sind die oftmals stark ineinander verschlungenen Partner-Arbeiten und das grosse Pax des trois im zweiten Teil und typisch für ihre Arbeiten: es wird viel auf Spitze getanzt. Die Musik für „Atonement“ stammt von LAURA ROSSI, einer englischen Komponistin und Professorin für Filmmusik in London und so klingt es auch, die Musik nimmt sich sehr zurück, ist grossenteils reine Untermalung, hat anfangs sehr wenig Eigenständiges. Erst im zweiten Teil nach der Pause gibt es kraftvollere Momente und eine spannendere Instrumentierung – schön ist die klar erkennbare Zuordnung von Motiven und Instrumenten zu den drei Protagonisten (Robbie: Cello/Briony: Klavier/ Cecilia: Violine). Der grosse Twist im zweiten Teil rettet für mich diesen Abend, der für mich eher nichtssagend-romantisch begann, aber das liegt wohl auch an der Vorlage, am Sujet. Rückblickend haben sich viele starke Bilder des zweiten Teils eingebrannt, haften bleibt die starke tänzerische Leistung des kompletten Ensembles und des Junior Balletts. Cathy Marston schafft es, choreographisch eine ähnliche Dichte zu erzeugen, wie der Roman McEwans sie abliefert, also grosser Vorsatz: „Abbitte“ nochmals lesen! „Atonement“ ist Weltliteratur, eine wirklich gute Geschichte, die auch als grosses Handlungsballett funktioniert, wer hätte das gedacht?

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KIdd Pivot: Assembly Hall – STEPS/Theater 11 Zürich 03.05.2024

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2 Kommentare

  1. frau frogg

    Gestern habe ich das Interview mit Ian MacEwan in der „Sternstunde Philosophie“ auf SRF gesehen. Schön, heute Deine Besprechung zu lesen. Ich werde mir die Produktion wohl nicht ansehen (zu viel Musik :-). Aber vielleicht das Buch wieder mal lesen.

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